»Fragment und Totalität - Ein wesentlicher Aspekt im Werk von Bernhard Sprute« Ferdinand Ullrich

Das Geschehen der Literatur und vor allem der Musik ist sukzessive. Es gibt einen Anfang und ein Ende. Ihr Baustein ist das Fragment, das – zusammengesetzt – die chronologische Totalität des Werks schafft. Aber auch das Fragment kann durchaus, wenn es nicht zum bloßen Augenblicksreiz reduziert ist, Sinn haben und diesen erzeugen: ein Satz, eine Tonfolge. Die ersten Sätze eines Romans oder die ersten Sequenzen einer Sinfonie können Schlüsselerlebnisse sein. Auch wenn man das Werk als Ganzes noch nicht erlebt hat, so gibt es im gelungenen Auftakt eine Ahnung vom ganzen Werk.

Die Bildende Kunst geschieht dagegen simultan. Alles ist zugleich vorhanden, das ganze Werk mit allen Details, die im Augenblick ohne jede Verzögerung erscheinen. Allein die Wahrnehmung kann eine Auflösung in einzelne Teile betreiben und das Simultane ins Sukzessive zurückführen. Der Betrachter ist aber frei in der Auswahl und Abgrenzung des Details, das er aus dem Ganzen auswählt.

Ebenso entsteht das künstlerische Werk sukzessiv. Am Anfang steht die leere, unberührte Leinwand. Diesen „horror vacui“ muss der Künstler mit einer ersten Setzung überwinden, um dann nach und nach das Werk zu erstellen und schließlich zu vollenden. Auch der Abschluss ist eine Setzung, die einer formalen und zugleich inneren Notwendigkeit entspringt. Dann aber ist das Werk in der Welt. Es behauptet die Einheit und will die Sehnsucht nach Ordnung, Übersicht, Sinn erfüllen.

Es scheint, als entstünden die Bilder von Bernhard Sprute gänzlich ohne eine solche vorgängige Idee des Ganzen. Detail wird an Detail gesetzt wie ein Mosaikstein an den anderen und scheinbar zufällig entsteht das ganze Bild. Dennoch ist das Bild mehr als die Summe seiner Teile, da diese sich formal und motivisch auf komplizierte Weise verweben. Beide Aspekte, Detail und Ganzheit, befinden sich schließlich in einer prekären Balance im Zustand der Vollendung. Dazu gehört aber auch, dass diese Vollendung sich als solche nie vollständig erschließt. Das vollendete Bild ist niemals vollendet. Schicht um Schicht ist abzutragen, Detail um Detail ist zu entschlüsseln. Und immer bleibt ein unauflösbarer Rest, der bei aller Detailversessenheit nicht zu ergründen ist. Man muss sich also nolens volens mit dem Fragmentarischen zufriedengeben, ohne die Hoffnung auf die Ganzheit aufzugeben. Denn im gültigen Bild will man ein Beispiel für die Einheit des Lebens, des Seins und der Welt sehen.

Ist das Streben nach Totalität also ein hoffnungsloses Unterfangen und geben wir uns lieber gleich mit dem Fragment zufrieden, da es doch anscheinend auch das gültigere Exempel unseres gegenwärtigen Seins ist? Oder soll man das Fragment selbst als eine begrenzte Totalität auffassen? Denn die Frage der Evidenz des Bildes für elementare Seinsfragen bleibt, wenn das künstlerische Bild mehr sein soll als eine reine Abbildung der äußeren Wirklichkeit.

Ein Werk ist nur dann gültig, wenn es so und nicht anders existiert, wenn es gerade nicht beliebig ist und zumindest eine vage Vorstellung eines inneren Gesetzes ermöglicht. So ist ein Werk nur dann von Bedeutung, wenn es in Form und Inhalt eine Folgerichtigkeit zeigt und damit zugleich das offenbart, „was die Welt im innersten zusammenhält“.

So gilt es eine andere Seite der Kunst in den Blick zu nehmen: Spiel und Zufall. Und das Fragment ist das Material dafür. So wird nicht nur aus der Not des Fragments eine Tugend gemacht, sondern das Unabgeschlossene selbst zu einer ästhetischen Qualität eigenen Rechts. Verlust des absolut Ganzen führt nicht zu Erkenntnisstarre sondern zu Offenheit.

Wenn Bernhard Sprute sich erst im letzten Augenblick entscheidet, welche Bildelemente bzw. Zeichen er stärker hervorheben will, so hat das etwas von subjektiver Willkür. Aber sie demonstriert zugleich die Öffnung zum spielerischen Zufall und zum Fragmentarischen. So sehr also das Fragment das unmittelbare Zeichen des Zerfalls von Einheit und Gewissheit ist, so sehr eröffnen sich hier auch eine neue Offenheit und Freiheit.

Totalität wird künstlerisch dekonstruiert und in ihrem Absolutheitsanspruch spielerisch unterlaufen. So liegt in der Beschränkung auf das Fragment in der Bilderwelt von Bernhard Sprute die Freiheit des unverkrampften Umgangs mit den Dingen dieser Welt.

Ferdinand Ullrich, Recklinghausen 2009