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»Kontingenz und Ordnung - Eine soziologische Annäherung an das Werk von
Bernhard Sprute« Rolf G. Heinze
Schon beim ersten Blick
auf die Bilder von Bernhard Sprute fällt die “Überfülle“ ins Auge. Man kann sie
nicht einfach entschlüsseln; verschiedene Ebene überlagern und überschneiden
sich, gegenständliche Motive wie Tiere, Köpfe oder Obst werden übermalt, neu
gewichtet und damit neu entdeckt. Elementare Formen wie Kreise, Kreuze,
Pflanzenmuster oder Ornamente werden kombiniert mit expressiv anmutenden geschichteten
Farben. Oft haben wir es auch mit „einer Kombination von scheinbar
Gegensätzlichem“ (ders. 2003) zu tun, die manche als Chaos empfinden mögen.
Gerade aber durch den Einbezug von Strukturen aus der Natur oder
„systematischen Gruppierungen“ schafft es Bernhard Sprute, seinen Bildern eine
Ordnung zu verleihen. Oder wie es Ferdinand Ullrich (1999) beschreibt: „Die
Entdeckung des Bildraumes schafft aber auch die Notwendigkeit einer neuen
Ordnung….Die Fläche bei ihm ist vollends ausgefüllt. Und als würde die
Zweidimensionalität nicht ausreichen für die Überfülle der Formen und Dinge,
wird der Raum in die Tiefe des Bildes erweitert, um Platz zu schaffen für eine
überbordende Malerei, in die die Dinge verwoben sind“.
Der Versuch, Ordnung im
Chaos zu stiften, ist aber nicht nur ein zentrales Merkmal der Arbeiten von
Bernhard Sprute, sondern kann als ein – wenn nicht sogar das zentrale
- Leitmotiv der Soziologie
aufgefasst werden. Verschiedene Gesellschaftstheoretiker haben sich seitdem
bemüht, die Kennzeichen einer modernen Gesellschaft herauszuarbeiten. Durkheim
(1858-1917) hat es an den verschiedenen Formen von Solidarität festgemacht;
demnach unterscheiden sich vormoderne, segmentär klar gegliederte
Gesellschaften durch eine „mechanische“ Solidarität, während moderne
Gesellschaften sich durch weitaus differenziertere Formen des Zusammenlebens
auszeichnen, die er mit „organischer“ Solidarität umschreibt. Aber auch die
Dominanz einer neuen, inszenierten Steuerung und die durch Arbeitsteilung
vorangetriebene Aufspaltung der Individuen in verschiedene Rollen markiert
nicht die komplette Abwesenheit von Traditionen und kulturellen Ritualen. Sie
werden aber überlagert und neue Differenzierungs- und Steuerungsformen werden
markant.
Bernhard Sprute würde
sagen, neue Erfahrungen drängen alte zurück und überlagern sie.
Auch für den Namensgeber
der Soziologie, Comte (1798-1857), stand die Herstellung einer sozialen Ordnung
im Mittelpunkt seiner Gesellschaftstheorie und Geschichtsphilosophie. Er setzte
– vor dem Hintergrund großer gesellschaftlicher Umbrüche (Bürgerkriege,
industrielle Revolution mit der Entstehung eines Proletariats etc) - große
Hoffnungen auf den wissenschaftlichen Fortschritt und die Verbreitung von
Rationalität und Vernunft im „positiven Zeitalter“, wobei von ihm die
Soziologie als die Krönung der Wissenschaft aufgefasst wurde, die – mit
heutigen Worten – die Gesellschaft angemessen steuern kann. Mit
grundlegenden gesellschaftlichen Umbrüchen haben wir es auch heute zu tun
– von einer verschärften Globalisierung, das „Ende“ der traditionellen
(normierten) Arbeitsgesellschaft bis hin zur Entgrenzung sozialer Sphären.
Allerdings gibt es einen
grundlegenden Unterschied in den gesellschaftstheoretischen Deutungen und hier
setzt auch die Kritik an Comte und seiner Definition der Soziologie als
„sozialer Physik“ an. Darin wird letztlich eine utopische technokratische
Ausrichtung gesehen, die zwar den Steuerungsbedarf moderner Gesellschaft zu
Recht hervorhebt, aber die realen soziologisch zu bestimmenden
Gestaltungsstrategien völlig überschätzt. In jüngster Zeit haben vor allem
systemtheoretisch orientierte Analysen auf die generelle Unterscheidung der
verschiedenen Steuerungsmedien (in der Wissenschaft etwa die Suche nach
Wahrheit, in der Wirtschaft das Streben nach Gewinn etc) hingewiesen und eine
hierarchische Steuerung (nach naturwissenschaftlichern Vorbildern) generell in
Frage gestellt. Vor dem Hintergrund der Steuerungsprobleme hochkomplexer
Gesellschaften plädieren sie für eine Abkehr von einer technokratischen
Gesellschaftssteuerung und eine Funktionsreduzierung der Politik, da diese
weder die Expertise noch die Durchführungskapazität hat. Man solle sich eher
auf Dezentralisierung, Selbstverantwortung und diskursive Steuerungsformen
konzentrieren.
Wenn schon die aufkommende
Industriegesellschaft in den Augen der Gesellschaftstheoretiker ein hohes Maß
an Komplexität, Kontingenz und gesellschaftlicher Desintegration aufwies, so
haben sich – folgt man den Analysen verschiedener Gesellschaftstheoretiker
- diese anomischen und desintegrierenden Elemente in den letzten Jahrzehnten
erheblich gesteigert. Habermas spricht von „neuen Unübersichtlichkeit“, die
sich nicht nur auf die
Gesellschaftsanalyse bezieht, sondern sich auch in den Deutungsversuchen fortsetzt.
Der zentralen Zersplitterung der
Gesellschaft folgt die Aufsplitterung der Teildisziplinen. So sprechen manche
soziologischen Zeitdiagnosen vom hemmungslosen oder „wildgewordenen“
Kapitalismus (oder einem „Turbokapitalismus“) und diese These wird auch gern in
den Medien verbreitet; andere sehen sogar die moderne Zivilisation insgesamt
bedroht
Autoren verschiedenster
Fachrichtungen und Grundorientierungen konstatieren als Resultat eines
langfristigen gesellschaftlichen Wandlungsprozesses eine wachsende
sozioökonomische und individuelle Verunsicherung, die sowohl gespeist wird von
der umfassenden Globalisierung mit all ihren Entgrenzungsphänomenen als auch
von der Entstehung einer „post-traditionalen Sozialordnung“ (etwa ablesbar an
der Erosion der traditionellen Familie, der „Singlisierung“ der Gesellschaft
etc).
Besondere Bedeutung hat in
dieser Debatte die Individualisierungsthese; sie macht als Problemhintergrund
einen historischen Freisetzungsprozess des Individuums aus traditionsbestimmten
Lebensformen und -entwürfen aus, den man auch als sozialstrukturelle
Fragmentierung bezeichnen könnte. Er betrifft Muster sozialer Bindung wie die
Familie, aber auch die Nachbarschaft oder die Verwandtschaft. Die religiösen,
familialen, oder berufsständischen Bindekräfte, auf denen Solidarität beruht,
werden in dieser dynamischen Entwicklung tendenziell aufgelöst. Auf einer
globalen Ebene werden damit Wertordnungen nicht mehr gemeinsam von allen
Gesellschaftsmitgliedern geteilt. Die Menschen entwickeln zunehmend
„Bastelbiographien“, die allerdings nicht mehr die Stabilität klassischer
Lebensentwürfe haben. Die Wahlfreiheiten des Einzelnen sind zwar größer
geworden, was aber durchaus auch riskante Freiheiten bedeuten kann, weil die
Lebensstile der Menschen immer weniger nach überkommenen Codes geordnet sind.
Variablen wie Alter, Geschlecht, soziale und regionale Herkunft determinieren
immer seltener die individuellen Biographien, auch wenn diesem Trend bereits
wieder neue Standardisierungen gegenüberstehen. Auf der Makroebene geht die
Pluralisierungsthese von der Auflösung traditioneller Milieus mit ihren
überlieferten Verhaltensvorgaben und engen räumlichen Bezügen aus. Stattdessen
sortierten sich die Lebenslagen und -stile zu neuen sozialen Milieus, die sich
nicht mehr in erster Linie über Beruf, Bildung, Einkommen und Stand definieren,
sondern über ihre Alltagskultur. Die Bildung sozialer Netze hänge davon ab, ob
die aus traditionellen Zusammenhängen entlassenen Menschen in ihren
Freizeitaktivitäten und Konsummustern, in den Formen der Geselligkeit und der
Mediennutzung, in Wertorientierungen, Einstellungen und der
Selbstidentifikation neu zueinander passen.
Individualisierung führt
einerseits also zur Entgrenzung, indem bislang von außen definierte
Lebenslaufoptionen mehr und mehr in die Hand des Individuums gelegt und die
Menschen dadurch zu „Wählenden“ werden (allerdings in den Grenzen individuell
kaum steuerbarer Phänomene wie etwa Arbeitslosigkeit). Eine Auswahl treffen zu
können, muss aber nicht nur einen Zuwachs an Möglichkeiten bedeuten, sondern
kann auch Schwäche, Unsicherheit und Enttäuschungen bewirken; die Folgen sind
ambivalent. Die auch in der Öffentlichkeit breit rezipierte soziologische
Individualisierungsdiskussion hat sich in den letzten Jahren ausdifferenziert,
ohne dass behauptet würde, damit das einzige definitive Wesensmerkmal der
heutigen Gesellschaft aufgespürt zu haben.
In der Verknüpfung
verschiedener Merkmale moderner Gesellschaftsmodelle, wie der funktional
differenzierten Gesellschaft, der Multioptionsgesellschaft, der Risiko- oder
der Wissensgesellschaft beschreibt Schimank die heutige Gesellschaft als
„Entscheidungsgesellschaft“. Entscheidungen werden gerade vor dem Hintergrund
anderer Merkmale wie der zunehmenden Bedeutung des Wissens im Alltagsleben,
neuer Risiken, kapitalistischer Zyklen und des Organisationswachstums zur
Alltäglichkeit – und dies in allen Lebensbereichen. Wenn
Entscheidungshandeln zum leitenden sozialen Handlungstypus wird, dann spielt
Erwartungssicherheit eine große Rolle, denn gerade Gestaltungsentscheidungen
erfordern auf makrostruktureller Ebene Sicherheiten, denn Entscheidungen zu
treffen heißt immer auch Handlungsalternativen auszuwählen. Ob diese
sozioökonomischen Sicherheiten, wie sie sich etwa im traditionellen „Modell
Deutschland“ manifestierten, heute noch anzutreffen sind, ist eine der
zentralen derzeit diskutierten Fragestellungen (man denke nur an die
großflächigen Verschiebungen von Arbeitsplätzen in andere Länder). Sicherlich
gab es immer schon Kontingenzen in dem Sinne, dass Handlungsalternativen zur
Verfügung standen und Selektionsprozesse situativ bewältigt werden mussten;
wesentlich gesteigert haben sich aber die sozialstrukturellen und kulturellen
Optionen. Die Ausbreitung der Entscheidungsgesellschaft impliziert aber vor dem
Hintergrund der aufziehenden Wissensgesellschaft auch eine Erhöhung der
Rationalitätsansprüche und dies bei steigender Komplexität der
Entscheidungssituationen.
Gerade in
sozioökonomischen Umbruchphasen, zumal wenn sie mit der Erosion eines
traditionellen Prosperitätsmodells verknüpft sind, werden makrostrukturell
Unsicherheitszonen systematisch erzeugt, die mikrostrukturell zu einer wachsenden „Qual der Wahl“ führen.
Und wenn dann auch noch klassische politische Steuerungsmodelle (wie der
Wohlfahrtsstaat) oder andere Konfliktlösungsmuster mehr und mehr an
Glaubwürdigkeit verlieren und ggf. sogar zerbrechen, dann kann sich das
Frustrations- und Konfliktpotential durchaus steigern. Allerdings sind Wissen
und Ungewissheit nicht unbedingt konkurrierende Elemente bei der soziologischen
Analyse, sie stehen eher in einer wechselseitigen Beziehung. Durch Wissen wird
offensichtlich, was wir nicht alles wissen und kann deshalb auch keine
generalisierte Erwartungssicherheit aufgebaut werden, wie sie noch den Vätern
der Soziologie vorschwebte. In Deutschland ist auf empirischer Ebene von
verschiedenen Beobachtern die wachsende Verunsicherung konstatiert worden und
durch die Stagnationsprozesse auf den Arbeitsmarkt sowie die damit ausgelösten
sozialen Desintegrationsprozesse wird auch zunehmend über soziale Polarisierung
und Zersplitterung gesprochen. Der Zuwachs an Handlungs- und
Gestaltungsalternativen des Lebenslaufes hat aber nicht nur eine abnehmende
Verlässlichkeit sozialer Bindungen zur Folge, sondern führt in Kumulation mit
den neuen ökonomischen Verwerfungen zu einer wachsenden sozialen Instabilität.
Gerade Menschen in ausgedünnten traditionellen Sozialbeziehungen sind auf der
Suche nach neuen sozialen und sinnstiftenden Beziehungen. Obwohl sich in den
letzten Jahren ein Bedeutungszuwachs von Netzwerken, die weniger
traditionsgeleitet und stärker Resultat von bewusster Lebensplanung sind, zu
verzeichnen ist, können diese nicht die sozioökonomischen Erschütterungen
kompensieren.
Gerade weil es mit den
herkömmlichen Mitteln nicht gelingt, die sich ausbreitenden sozialen
Verunsicherungen zu mildern, entzündet sich eine Debatte um die Kernprobleme
der sozialen Sicherungssysteme (etwa der Alterssicherungssysteme) und deren
Zukunftsfähigkeit. Wenn sich der Fixpunkt des deutschen Sozialsicherungsmodells
so entwickelt, dass die Zukunft der Arbeit eher in Richtung einer unsicheren
und flexiblen Erwerbsbiographie geht und sich damit die Grundlagen des
Wirtschaftsmodells strukturell verändern, dann sind nicht nur die neuen Zonen
sozialer Verunsicherung auszuleuchten; vielmehr sind grundlegende Fragen zu
einer neuen politischen Ökonomie des Wohlfahrtstaates zu stellen. Und dabei geht es nicht ohne die Rückbesinnung auf
Strukturzusammenhänge und „systemische“ Innovationen. Insgesamt geht es um
einen sozioökonomischen Pfadwechsel, der allerdings nicht in einem neuen,
global konvergierenden Ordnungsmodell zu münden scheint, sondern sich durch
Heterogenität und die Rekombination verschiedener Entwicklungspfade
auszeichnet.
Deshalb werden auch die
Thesen einer pluraldifferenzierten und individualisierten Gesellschaft gerade
in letzter Zeit aufgrund der wachsenden Ausgrenzungsprozesse auf dem
Arbeitsmarkt und der Abstiegskarrieren verschiedener Personengruppen vehement
auf das Theorem der sozialen Ungleichheit und der sozialen Gleichschaltung
(z.B. durch die „Kulturindustrie“) Bezug genommen. Es wurde bezweifelt, ob wir
wirklich in solch einer atomisierten Gesellschaft jenseits von Stand und Klasse
leben und deshalb auch Großgruppenbegriffe nur noch Hülsen ohne große
soziologische Ausstrahlung darstellen. Beide Diagnosen der sozialen
Verhältnisse in der Bundesrepublik stehen weitgehend ungeklärt nebeneinander
und widersprechen sich sogar in verschiedenen Aspekten. Das gilt auch für die
scheinbar gegenläufigen Befunde von Individualisierung und wachsender
massenkultureller Uniformität. Man denke nur an die Ausweitung von „MTV“, ein
Musiksender, der sich weltweit an die Jugend wendet. Aber auch die massenhafte
Anwendung des Internet und der Aufbau von millionenfach genutzten Internetportartalen
zeugt von einer Überlagerung von Individualität und „Gleichschaltung“.
Das Nebeneinander von
scheinbar wesensfremden Elementen erhöht insgesamt die gesellschaftliche Komplexität
und hat gravierende Auswirkungen, die von dem wohl bekanntesten Systemtheoretiker, Luhmann, so beschrieben werden: „Die Umwelt wird
als chaotisch, als bestimmt durch nichtlineare Dynamiken und unberechenbare
Wechselwirkungen erfahren. Folglich muss man auf unvorhergesehene
Konstellationen schnell reagieren können. Außerdem ist das System selbst durch
eine Vielzahl von teilnehmenden Organisationen endogen unruhig. Es gibt nicht
mehr nur den letztzuständigen Staat, der nur darauf achten muß, durch seine
Politik in der Bevölkerung keine Unruhen auszulösen. Eine Vielzahl anderer
politischer Organisationen, von politischen Parteien, politisch agierenden
Wirtschafts- und Berufsverbänden bis zur politischen Presse sorgen für ein
unkoordinierbares Wirrwarr von Impulsen, die Reaktionen herausfordern. Das
System produziert unter diesen Bedingungen eine ständig wachsende Zahl
restriktiver Regulierungen, die ihrerseits als Problemlösungen zu Problemen,
als Output zum Input werden. Allein das mag inzwischen genügen, um eine
Eigendynamik zu erzeugen, die sich mehr und mehr von der ohnehin nicht
kontrollierbaren Umwelt ablöst und selbstläufig ‚Politik treibt‘“ (Luhmann
2000a, 142f).
Die wohl geordnete und
politisch verfasste Gesellschaft der Bundesrepublik ist also in einen Zustand
der wachsenden Desorganisation geraten. Und deshalb kann es nicht überraschen,
wenn die klassische Sicht auf Organisationen als geordnete, verlässliche
Systeme gerade von systemtheoretisch ambitionierten Theoretikern radikal in
Frage gestellt wird. „Neuere Organisationsarchitekturen betonen flache
Hierarchien, Netzwerke, verteilte Systeme, heterarchisch gekoppelte Center und
selbständige Geschäftseinheiten, teilautonome Gruppen, Einbindung externer
Partner etc Alle diese Modelle meinen damit nicht Strukturlosigkeit und Chaos,
sondern eine Verlagerung der Merkmale der Organisation auf Flexibilität,
Geschwindigkeit, Klientenorientierung und Innovation“ (Willke 2003, 304).
Hier setzen auch
verschiedene Arbeiten von Bernhard Sprute an; auch bei ihm gibt es oft eine
Kombination von Gegensätzlichem, hell und dunkel, Tag und Nacht, konstruktiv
und expressiv. Farben fließen oft ineinander und durch seine spezielle Technik
(etwa mit der Tube aufzutragen) überlagern und verschachteln sich Farbräume und
symbolisieren so gesehen die Unmöglichkeit einer hierarchischen Steuerung.
Stattdessen werden streng konstruierte Elemente mit Zufälligem verbunden.
Sprute selbst spricht in diesem Kontext von „sozialen Systemen“: das ideale
soziale System „formiert sich, indem Konstruiertes und Zufälliges verknüpft
wird und scheinbar wesensfremde Ebenen verbunden werden – im Sinne der
Bildung eines Systems der Harmonie, da sich zwischen stilisierten
Pflanzenmotiven und gestisch
aufgetragenem Umfeld durch Übermalung und Überfließen der Ebenen Wege der
Annäherung finden“ (2003).
Ob diese Harmonisierung
auch hinsichtlich der gesellschaftlichen Konstruktion einer neuen Ordnung
gelingt, ist derzeit noch offen. Die strukturellen Unsicherheiten können auf
jeden Fall auf gesellschaftspolitischer Ebene nicht mehr dadurch aufgefangen
werden, dass man sich auf die Fähigkeit der in einer repräsentativen Demokratie
vorgesehenen Willensbildungskanäle (also primär den politischen Parteien)
verlassen könnte. Zum einen sind die Wahlprogramme der größeren Volksparteien
zu unspezifisch, um im Regierungsalltag konkrete Politik zu machen und zum
anderen leidet die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit der politischen
Parteien ebenfalls unter den Bedingungen einer mehr und mehr individualisierten
„Entscheidungsgesellschaft“ mit all ihren Kontingenzen. Auch sind sie nicht mehr im eigentlichen Sinn
„Volksparteien“, sondern laufen ebenfalls den gesellschaftlichen
Wandlungsprozessen hinterher und versuchen sich neuerdings als
„Netzwerkparteien“. Die offizielle Politik stellt zwar noch immer
Problemlösungen in Aussicht und lebt von einer Rhetorik von Versprechungen,
ohne allerdings die anstehenden Probleme wirklich lösen zu können.
Aus Sicht der politisch
Handelnden erhöhen sich aber auch - im Unterschied etwa zu den 50er und 60er
Jahren der „alten“ Bundesrepublik - die Turbulenzen; politisches Gestalten wird
vor dem Hintergrund einer „zersplitterten“ Gesellschaft und einer zur Hektik
neigenden Medienöffentlichkeit immer schwieriger und auf die eingespielten
korporativen Netzwerke ist immer weniger Verlass, da sie nur ein und zudem
immer kleiner werdendes Segment des politischen Interessenspektrums abdecken.
„Vernetzungen gewährleisten kein ruhiges Leben, aber sie halten die
Herausforderungen in Grenzen, mit denen man zurechtkommen kann“ (Luhmann 2000b,
409). Dies ist auch deshalb schwierig, weil sich in modernen
"Wissensgesellschaften" Vertrauen immer weniger selbstverständlich
herstellt, sondern durch bewusst geschaffene soziale Nähe und institutionelle
Netzwerke konstruiert werden muss. „Netzwerke bilden sich auf der Basis von
konditionierter Vertrauenswürdigkeit. Sie ersetzen auf diese Weise die
Sicherheit, die ein Organisationssystem in der Mitgliedschaft seiner Mitglieder
findet“ (Luhmann 2000b, 408).
Wenn man Netzwerke als
Antwort auf die Erosion traditioneller politisch-sozialer Organisationen
versteht, dann trifft sich dies durchaus mit den Gedanken von Bernhard Sprute,
der auf eine „Harmonie der Gegensätze“ baut und die Funktionsverluste eines
Elementes kompensiert sieht durch den Aufbau eines zunächst unstrukturiert
wirkenden „Systems“. Aus dieser Sicht betrachtet hat der Zuwachs an Handlungs-
und Gestaltungsalternativen nicht nur eine abnehmende Verlässlichkeit sozialer
und politisch-institutioneller Bindungen zur Folge, sondern fordert einen
Gegentrend heraus. Gerade Menschen in ausgedünnten traditionellen
Sozialbeziehungen sind beispielsweise auf der Suche nach neuen sozialen und
sinnstiftenden Beziehungen (nicht nur in Selbsthilfegruppen, Bürgerinitiativen
etc, sondern ebenso in den neuen „sozialen Netzwerken“ im Internet).
Verbesserte materielle Lebensbedingungen, höheres Bildungsniveau und gewachsene
räumliche und soziale Mobilität haben allgemein neue Wertorientierungen,
Motivationen und Präferenzen (auch in Form selbst organisierter Gemeinschaft)
geschaffen. Es hat sich eine Tendenz zur Aufwertung lockerer sozialer Netzwerke
herausgebildet, innerhalb derer Beziehungen zu Freunden und Partnern und
informelle Formen der gemeinschaftlichen Selbsthilfe eine große Rolle spielen.
Jenseits der Antithesen von dem Verlust oder der Liberalisierung von
Gemeinschaft deutet sich ein Bedeutungszuwachs von Netzwerken an, die weniger
traditionsgeleitet und stärker Resultat von bewusster Lebensplanung sind. Nicht
nur Freundschaftsbeziehungen, sondern auch Hilfeleistungen haben innerhalb der
letzten Jahre deutlich zugenommen. Diese informellen Netzwerke haben heute
vielfach dieselbe Funktion der Alltagsbewältigung wie früher Familien. Bei
ihnen geht es auch um die allgemeine psychosoziale Stabilisierung und
mikrosoziale Einbindung.
Oder in den Worten von Bernhard
Sprute: Erfahrungen, die bereits aus dem Bewusstsein verschwunden sind, können
– gerade, wenn deren Erosion unmittelbar erlebt wird und dies von vielen
als Bedrohung aufgefasst wird – revitalisiert werden. Neue (alte)
Überlagerungen, sowohl frei gewählte als auch traditionelle, kehren zurück.
Bernhard Sprute beschwört so gesehen in seinen Bildern ein hohes Maß an
Optimismus hinsichtlich der Überlebensfähigkeit unserer Gesellschaft. Gerade
durch die kulturgeschichtliche Fundierung gewinnt er Abstand zu schnellen
Krisen- und Zerfallsdiagnosen und weist demgegenüber auf die immer wieder
hervorkehrende Ordnungssystematik
hin, die allen Zersplitterungen trotzt. Und diese These würde er wohl auch
angesichts der gewachsenen Sprengkraft von Märkten, die herkömmliche und
eingelebte Kulturen von Wirtschaft, Arbeit und Leben in bisher unvorstellbarer
Geschwindigkeit zersetzt, aufrechterhalten. Ob wir noch länger von einem
stabilen kulturellen Plateau ausgehen können, ist eine heute allerdings eine
nicht endgültig zu beantwortende Frage. Aber auch wenn er nur zum Mahner würde,
so hätte damit Kunst schon viel erreicht.Bereits beim Umgang mit
Entgrenzungen zeichnen sich viele Parallelen zwischen der
Gesellschaftsentwicklung und dem Werk von Bernhard Sprute, warum sollten sie
nicht auch hinsichtlich einer potentiell immer möglichen Handlungsalternative
aufscheinen.
Es gibt eben nicht nur
eine objektivistische Zuschreibungslogik, sondern auch subjektive, ästhetische
Momente des Lebensstils, die bei allen Verunsicherungspotentialen und
Desintegrationsgefahren, die unseren derzeitigen Gesellschaftszustand
markieren, auch auf Selbstverantwortungspotentiale hinweisen. In diesem Sinne
haben wir es mit offenen, potentiell lernfähigen Systemen zu tun, wobei der
Systembegriff (vor allem hinsichtlich der Verwendung des Begriffs „soziale
Systeme“) nicht strikt im Sinne etwa der letzten systemtheoretischen Variante
von Luhmann verwandt wird, der stark auf die Abgrenzung zwischen System und
Umwelt setzt, während in den Arbeiten von Sprute es eher um zusammentreffende
Formen, um die „Verdeutlichung der Korrespondenz zwischen Mensch und Natur, der
Übernahme von Regelwerken“ (2003) und generell das Ineinanderfließen
verschiedener Elemente geht. Luhmann selbst weist auch in seinem Buch „Soziale
Systeme“ (1984) auf die Terminologiegeschichte des Terminus „System“ hin, die
erst um etwa 1600 beginnt, während vorher von Ganzheiten gesprochen wurde, die
aus Teilen bestehen. Er ersetzt in seiner Systemtheorie dieses Verhältnis durch
die strikte Differenz zwischen System und Umwelt. Gerade weil sich Sprute in
seinen Bildern (etwa den Madonnenbildern aus jüngster Zeit) mit historisch
länger zurückliegenden Perioden beschäftigt, sollte die Terminologie eher in
dem erweiterten Sinn verstanden werden.
Auf
sozialwissenschaftlicher wie auf politischer Ebene kann die Diskussion um die
systemische Lernfähigkeit in der Debatte um einen „neuen“ Gesellschaftsvertrag
und einen erneuerten Wohlfahrtsstaat verortet werden. Man hat derzeit den
Eindruck, dass sich die bundesrepublikanische Gesellschaft in einem
Übergangsstadium befindet. Die Säulen des „alten“ Modells stehen zwar alle
noch, verkommen aber zu Fassaden. Scharpf hat in diesem Zusammenhang schon vor
zehn Jahren von der „Unfähigkeit
der deutschen Politik, überfällige Strukturreformen in Angriff zu nehmen“
gesprochen. Deshalb droht eine blockierte Gesellschaft, die auf die neuen
Herausforderungen noch keine Antworten geschweige denn politische
Handlungskonzepte gefunden hat. Die politischen Parteien scheinen hinsichtlich
alternativer Handlungsmodelle verunsichert und gelähmt zu sein,
reformpolitisches Potential ist kaum noch auszumachen; zu jedem Reformentwurf
finden sich eine Reihe von einflussreichen „Vetospielern". Die vielerorts
anzutreffende Ratlosigkeit verstärkt noch die gesellschaftlichen
Erstarrungstendenzen und markiert so einen weiteren Schritt zu einer
blockierten Gesellschaft. Diese Ansicht habe ich auch in einem gleichnamigen
Buch von 1998 vertreten. Der Begriff der „blockierten Gesellschaft“ beansprucht dabei nicht, ein
umfassendes soziologisches Analysekonzept vorzulegen, er soll eher eine „starke“
Hypothese vorstellen, um den politisch-sozialen Zustand der neuen
Bundesrepublik zu charakterisieren. Im Zentrum der These von der blockierten
Gesellschaft der Bundesrepublik steht ein begrifflicher Widerspruch: Betrachtet
man den sozialstrukturellen Wandel ebenso wie die unterschiedlichen Effekte der
wirtschaftlichen Globalisierung, so verstärkt sich der Eindruck, es hier eher
mit der Auflösung alter Strukturen, mit der Auffächerung von Lebensformen, mit
der Verflüssigung hergebrachter Prinzipien zu tun zu haben als mit Blockaden.
Der Wandel ist allerdings eingebettet in Institutionen, die in massive
Orientierungskrisen geraten sind und in ihrem Bestand gefährdet sind. Die in
solchen Situationen übliche Selbstvergewisserung, wenn nicht sogar Ignoranz
blockiert nicht nur die Institutionen an sich, sondern auch deren Sensibilität
für den sozial- und wirtschaftsstrukturellen Wandel, mit dem diese
gesellschaftlichen Instanzen eigentlich eng verbunden sein sollten. Die daraus
entstehenden Blockaden treten in unterschiedlichen Dimensionen auf. Der Trend
zur organisatorischen Selbstbeschäftigung lässt sich gut als
Wahrnehmungs-Blockade beschreiben, weil im Prinzip nur noch der Bestand der
eigenen Institution wahrgenommen wird und ein Großteil der Kräfte und
Potentiale in innerinstitutionellen Auseinandersetzungen aufgesogen wird. Hinzu
kommt, dass viele Institutionen, insbesondere die Verbände und Parteien, den
gesellschaftlichen Wandel in ihren eigenen Grenzen nur bedingt nachvollzogen
haben. Generationenwechsel haben nur begrenzt stattgefunden, alternative
Optionen werden von Rückbesinnungen auf alte Tugenden weggefiltert, so dass
sich auch mentale und kognitive Blockaden
aufrichten. Mit beidem zusammen hängt die in Deutschland besonders gut
sichtbare Interaktions-Blockade zwischen den Institutionen. Viele Gruppen sind
kaum noch fähig zu konstruktiven Kooperationsbeziehungen, weil ihnen die eigene
Organisationskrise kurzfristige Bestandserhaltungs-Strategien aufzwängt.
Ideologien als Mittel der Verdrängung bzw. der Selbststabilisierung nach innen
sind wieder gefragt. Aus dem gesellschaftlichen Wandel ergeben sich jedoch neue
Herausforderungen und Bedürfnisse, auf die viele der traditionellen und in der
Vergangenheit durchaus bewährten Institutionen in der Bundesrepublik derzeit
nicht konstruktiv antworten.
Die Fokussierung auf eine
blockierte Gesellschaft bedeutet aber nicht Resignation hinsichtlich eines
allmählichen Verfalls unserer Gesellschaftsordnung. Vielmehr und deshalb ist
auf der Vorderseite des Buches ein Bild von Bernhard Sprute abgebildet („Fülle“
von 1995), geht es - zur Verhinderung dieser sozialen Desintegration und des
Zerfalls der gesellschaftlichen Ordnung um eine erneuerte Kooperation zwischen
den großen Verbänden und dem Staat. Um die blockierte Gesellschaft zu vermeiden
und die Krise zu überwinden, wird also den organisierten Interessen nicht nur
ihre noch immer vorhandene Verhinderungsmacht abverlangt, sondern Gestaltungsfähigkeit. Oder mit anderen
Worten: aus den Herausforderungen entsteht ein neues Ordnungssystem.
Das Bild „Fülle“ symbolisiert
auf eindrückliche Weise, wie aus der Komplexität und dem Auseinanderdriften
wieder ein Kooperationsmodell werden kann. In meinem 2002 erschienenen Buch zur
„Berliner Räterepublik“ sind diese Ordnungsschemata einer koordinierten Politik
aufgegriffen worden, wobei im Titelbild auf die gerade in Deutschland als
„semisouveränen“ Staat dominierenden verschiedenen Ebenen plastisch hingewiesen
wird („Ebenen im System“ von 2002). Es verweist einerseits auf die Optionen
einer aktivierenden und auf Zukunftsfähigkeit ausgerichteten Politik, nimmt
andererseits aber auch die institutionellen Stolpersteine in den Blick, die von
der Politik - und dies gilt auch ganz aktuell zu Beginn des Jahres 2008 und
einer „großen“ Regierungskoalition - schon einiges mehr an Lernbereitschaft und
Umsetzung erwartet hat.
Es ist eine vorzügliche
Aufgabe von Kunst, an die Option Lernbereitschaft zu erinnern und die
Hoffnungen auf einen geordneten Ausweg aus den größer werdenden Bedrohungen zu
finden. Und wenn dies auf politischer Ebene nicht als realistischer Weg möglich
erscheint, so sind dennoch die Bilder als Systeme für Mustererkennungsprozesse
ein großer Gewinn. Letztlich können von Seiten der Kunst oder auch der
Wissenschaft nur Optionen angeboten werden, ihre Funktionslogiken sind jedoch
anders ausgerichtet als die der Politik. Diese Differenz hinsichtlich der
Steuerungsmedien macht auch Bernhard Sprute immun gegen kurzsichtige politische
Instrumentalisierungen durch politische Repräsentanten. Seine Wirkungen bleiben
der aktuellen Politik weitgehend verborgen, gerade weil sie sich auch nicht auf
den ersten Blick erschließen. Angesichts der Hektik des Politikbetriebes und
der enorm gewachsenen Bedeutung kurzfristiger Medieninszenierungen wird sich
wohl die Distanz zur Realpolitik kaum verringern. Dies braucht aber weder die
Kunst noch die Wissenschaft oder die Öffentlichkeit zu beunruhigen.
Prof. Dr. Rolf Heinze, Ruhr-Universität Bochum 2008
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